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Ärzte Zeitung: Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung: „Im Moment herrscht Stillstand“

Die Integrierte Versorgung kommt nicht voran und die Ampel-Koalition vergibt ihre Chancen, kritisieren Professor Eckhard Nagel und Dr. Albrecht Kloepfer von der DGIV im Interview mit der Ärzte Zeitung.

Herr Professor Nagel, Herr Kloepfer, die Koalition ist knapp ein Jahr im Amt. Wo stehen wir mit Blick auf die Integrierte Versorgung?

Eckhard Nagel: Die Hinweise auf eine Stärkung der Integrierten Versorgung haben sich zumindest in der bisherigen Gesundheitsgesetzgebung der Ampel noch nicht realisiert. Das mag der Beschäftigung mit der Pandemie und ihren Auswirkungen geschuldet sein. Gleichwohl müssen wir feststellen, dass wir gemessen an dem, was einmal angekündigt worden ist, keinen Schritt nach vorne haben. Allerdings hat das Gesundheitswesen auch an fast allen Stellen gravierende Herausforderungen, die man in dieser Dramatik nicht überall so erwartet hat.

Aber wie lässt sich der Stand der Integrierten Versorgung also beschreiben?

Nagel: Wir haben mit Blick auf die Gesundheitspolitik unverändert einen Verhandlungsflickenteppich. Und die Integrierte Versorgung sowie die ländliche regionale Versorgung, die ja auch immer wieder in diesem Zusammenhang genannt werden, werden zu wenig in Augenschein genommen und somit die Chancen, die sich dadurch ergeben würden, verspielt.

Im Augenblick wird die Tagesbehandlung im Krankenhaus diskutiert. Entwürfe aus dem Bundesgesundheitsministerium liegen vor. Inwieweit haben die Kritiker recht, dass es sich dabei eher um die Segregation denn die Überwindung von Sektorengrenzen handelt?

Nagel: Das ist eines der mit großem Unverständnis wahrgenommenen Projekte des Bundesgesundheitsministeriums. Ich nenne dies deshalb völlig unverständlich, weil diese Entwicklung medizinisch gesehen unpraktikabel und somit falsch ist.

Dr. Albrecht Kloepfer: Der Vorschlag der Krankenhauskommission bleibt damit tatsächlich hinter dem Koalitionsvertrag zurück. Das ist ein Rückschritt, weil er die Sektorengrenze noch einmal deutlicher manifestiert und der Koalitionsvertrag eine ganze Reihe von Vorschlägen macht, wie man die Sektorengrenze eigentlich aufweichen und durchlässiger machen könnte. Und vor diesem Hintergrund ist das Papier der Kommission ein Desaster, weil es zunächst einmal den Krankenhäusern diese Tagesbehandlung zuweist und dann sagt, in einem späteren Reformschritt nach Evaluation könnte man überlegen, wie die Vertragsärzteschaft eingebunden werden könnte. Das manifestiert den Konkurrenzgedanken zwischen den Sektoren statt ihn zu überwinden.

Stichwort Notfallreform: Da sollte doch einmal gemeinsam darüber entschieden werden, ob ein Patient beim Vertragsarzt behandelt werden sollte oder im Krankenhaus. Wo sind denn die Ansätze der Ampel, Grenzen zu überwinden und Wirtschaftlichkeitspotenziale zu heben?

Nagel: Im Hinblick auf die Notfallversorgung erwarten wir noch eine Vorlage des BMG. Und wenn ich die Signale richtig verstehe, dann soll es hier in den kommenden Wochen Vorschläge geben, die an die Ansätze aus der vorigen Legislaturperiode anknüpfen. Meine Hoffnung bleibt, dass die Politik den Rahmen so steckt, dass tatsächlich sektorenübergreifende Versorgungskompetenzen und Versorgungsmöglichkeiten entstehen.

Wird die Politik nicht alleine schon von den realen Verhältnissen in diese Richtung getrieben?

Nagel: Ja! Viele Patientinnen und Patienten, die in diesen Tagen in eine Notaufnahme gehen, spüren die zunehmend eingeschränkten Möglichkeiten. Das ist schlechterdings schon wegen des Mangels an Fachkräften, des Mangels an weiteren Ressourcen und wegen des Überlaufens dieser Einrichtungen so. Es gibt immer größere Patientenzahlen, die die Notaufnahmen nutzen müssen, weil sie sich innerhalb des Systems nicht adäquat zurechtfinden. Insofern ist das Thema Notfallversorgung auch aus einer ganz anderen Perspektive eine besondere Herausforderung. Hier wird die Mangelsituation, in der sich das System insgesamt befindet, besonders schmerzlich erkennbar. Insofern ist genau hier auch die höchste Dringlichkeit geboten, nicht nur Vorstellungen zu formulieren, sondern tatsächlich neue Modelle umsetzen zu können.

Der Begriff Integrierte Versorgung taucht ja im Koalitionsvertrag der Ampel gar nicht auf…

Kloepfer: Wir verstehen unter Integrierter Versorgung intersektorale, interprofessionelle und interdisziplinäre Versorgungsansätze. Und genau da zementiert der Vorschlag der Krankenhauskommission die Grenzen, die wir eigentlich zu überwinden versuchen. Integrierte Versorgung ist kein Fachbegriff mehr, seit es ihn im SGB V nicht mehr gibt, sondern ist eine Versorgungsidee, die sich an der patient journey orientiert. Und da erleben wir eher einen Rück- als einen Fortschritt. Übrigens: Der FDP ist es gelungen, das Wort Integrierte Versorgung endgültig zu diskreditieren, indem sie sie in ‚besondere Versorgung‘ umbenannt hat.

Nagel: Im Moment herrscht Stillstand. Gerade mit Blick auf die Patientenpfade ergibt sich aber die Notwendigkeit, dass wir, was wir einmal als sektorenübergreifende Versorgung beschrieben hatten, nämlich eine enge Fokussierung auf die ambulante und stationäre Versorgung, im Hinblick auf die Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung deutlich erweitern müssen. Zum Beispiel um die Prävention und die Rehabilitationsmedizin. Mit der Digitalisierung haben wir die Möglichkeiten, die verschiedenen Angebote so zu strukturieren, dass sie tatsächlich ineinandergreifen. Das Sozialgesetzbuch dagegen ist in diesem Bereich nicht nur antiquiert, sondern stellt wirklich ein Problem für den medizinischen Fortschritt dar. Die Erwartung an die neue Regierung war, dass sie sich an dieser Stelle bewegt. Ich höre auch aus dem Bundesgesundheitsministerium, dass es Bestrebungen in diese Richtung gibt. Im Moment liegt aber schlicht und einfach noch nichts dazu vor.

Sie haben es angesprochen. Neue Strukturen benötigen eine Infrastruktur. Im Moment steht die digitale Infrastruktur noch nicht wirklich. Geht integriert und sektorenübergreifend auch ohne?

Nagel: Ich habe mir gerade bei Vivantes in Friedrichshain die Entwicklung der elektronischen Patienten- und Fallakte angesehen, also auch die Verbindung des Krankenhauses zu den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Da lässt sich schon sehen, wie das funktionieren kann, und wie die elektronische Fallakte tatsächlich dazu einlädt, die ambulante und stationäre Versorgung in eins zu denken. Und für den Patienten wird erkennbar, dass es sich tatsächlich um einen Fall handelt, um seinen Fall, der von unterschiedlichen Verantwortlichen in einem gemeinsamen Kontext begleitet wird. Und dass, wenn er frühzeitig entlassen wird, dies in eine gute haus- oder fachärztliche Versorgung hinein geschieht. Diese Möglichkeiten gibt es also schon, auch wenn wir noch keine vollständig entwickelte digitale Infrastruktur haben.

Ist das Ihr Ansatz? Die sektorenübergreifende Versorgung von unten her zu entwickeln?

Nagel: Unser Plädoyer ist ganz klar. Nicht darauf warten, dass wir die nächste Agenda bekommen, sondern tatsächlich voranschreiten und die Möglichkeiten, die schon da sind, nutzen. Das darf nur nicht konterkariert werden von Vorschlägen, die in eine völlig andere Richtung gehen.

Sie sprechen wieder von der Krankenhauskommission?

Nagel: Was wir gerade von der Krankenhauskommission erleben, kommt einem ganz anachronistisch vor. Es werden Vorschläge gemacht, die am Ende in Frage stellen, ob tatsächlich die Sektoren aus ihrer Verantwortung als Körperschaften öffentlichen Rechts heraus noch handlungsfähig sind. Oder ob ihnen Vorgaben gemacht werden, die letztendlich ihre Existenz aushebeln.

Was bedeutet das für die Ärzte, für die Sektoren, für die Gesundheitspolitik?

Nagel: Die unlängst verstorbene ehemalige stellvertretende bayrische Ministerpräsidentin und langjährige Sozial- und Gesundheitsministerin Barbara Stamm hat der Selbstverwaltung in ihrer letzten großen Rede im Sommer ins Stammbuch geschrieben, wie notwendig es ist, nicht nur eigene Interessen zu vertreten, sondern dass sie im Gesundheitswesen die Aufgabe hat, tatsächlich übergreifend für die Patientinnen und Patienten da zu sein. Auf der anderen Seite muss sich der Gesetzgeber dann fragen, wie er zum Ermöglicher dessen werden kann, was an gemeinsamer Versorgung stattfinden soll. Stattdessen erleben wir im Moment gerade eine Abkehr vom Brückenbauen hin zu schnellen Lösungen. Die können notwendig sein, sollten aber nicht ganze Versorgungsbereiche abkoppeln.

Welche Versorgungsbereiche sprechen Sie an?

Nagel: Nehmen wir mal die ambulante Versorgungssituation. Da muss ich sagen, dass wir natürlich nicht nur lange Wartezeiten haben, sondern viele Patienten auch erleben, dass sie zum Beispiel nach einem stationären Aufenthalt keine Termine bekommen für die Nachsorge. Dass dort eben die Kooperation nicht mehr funktioniert.

Wenn ich in so einer Situation Vorschläge mache, den Krankenhäusern noch mehr Patienten zuzuschieben, frage ich mich, wie das funktionieren soll. Ich kann den Krankenhäusern schon deshalb keine neuen Aufgaben zuordnen, weil das Personal dafür nicht da ist. Deshalb muss man alle, die in der Lage sind, das Angebot in der Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten, an einen Tisch holen, und nicht Vorschläge unterbreiten, die das Gegenteil bewirken.

Kloepfer: Was die Politik im Moment nicht wahrnimmt, ist die kritische Prüfung dessen, wo sie selber tatsächlich in der Verantwortung steht. Es fehlt die Analyse, wo das SGB V und die damit verknüpften Rechtsgrundlagen die Akteure selbst zu Gegnern macht. Und wo das so ist, kann nur die Politik selbst dies beenden.

Die Vereinssatzung stimmt nicht, und dafür sehen wir im Moment weder Verantwortung noch Bewusstsein.

Herr Professor Nagel, Herr Dr. Kloepfer, wir danken für das Gespräch.