top
X

DGIV-Vorstand im Interview: „Auf welcher Basis will ein Ministerium jetzt eine Rechtsverordnung schreiben?“

Die Deutsche Gesellschaft für die Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen (DGIV) will sich in diesem Monat auf ihrem Jahreskongress kritisch mit der aktuellen Gesundheitspolitik auseinandersetzen. Wo sieht der Verband Handlungsbedarf? Der änd sprach mit dem Vorstandsvorsitzenden Prof. Eckard Nagel (Universität Bayreuth) und dem geschäftsführenden Vorstandsmitglied Dr. Albrecht Kloepfer.

 

Herr Prof. Nagel, Herr Dr. Kloepfer, derzeit wird der Politikstil des Bundesgesundheitsministeriums viel diskutiert. Es werden Expertenkommissionen eingesetzt, von denen man lange nichts hört. Dann taucht – wie jetzt bei der sektorengleichen Vergütung – plötzlich ein Gesetzesentwurf wie aus dem Nichts auf. Ein krasser Gegensatz zum Vorgehen von Ex-Minister Jens Spahn, der enorm viele Gesetze auf den Weg schickte, die Pläne aber vorher näher ankündigte. Wie beurteilen Sie die derzeitige Gesundheitspolitik?

Nagel: Ich glaube, dass inzwischen allen Beteiligten deutlich wird, dass das BMG – formulieren wir es einmal vorsichtig – auf die eigene Kompetenz setzt und die Gremien der Selbstverwaltung zum Teil außen vor lässt. Das mag aus politischer Sicht sinnvoll sein, wenn man den einen oder anderen gordischen Knoten rasch durchschlagen will. Auf der anderen Seite geht es natürlich auch an den Erfahrungen vorbei, die in wichtigen Organisationen gemacht und teilweise auch schon sehr differenziert zusammengetragen wurden.

Ein Satz zur sektorengleichen Vergütung, da Sie das gerade ansprechen: Das ist etwas, das wir als DGIV lange gefordert haben. Das wird nun aber offenbar in einer Art vorbereitet, die an den Praktizierenden und ihren Alltagserfahrungen selbst vorbeigeht. Damit ist uns natürlich nicht gedient. Es ist zu befürchten, dass Vorschläge und Gesetzestexte verabschiedet werden, die Bedürfnisse der praktisch Tätigen nicht berücksichtigen und dass wir dem grundsätzlichen Vorhaben – der Überwindung der Sektorengrenzen – eher einen Schaden zufügen. Aus einem möglichen Scheitern solcher Initiativen heraus, könnte schließlich die Sektorenüberwindung diskreditiert werden. Nach dem Motto: Das hat ja alles doch nichts gebracht – lassen wir das. Daher würde ich mir wünschen, dass die Politik hier eine breitere Gesprächsebene vor den Entscheidungen sucht.

Im konkreten Änderungsantrag ist ja die Rede davon, dass erste Schritte in Richtung sektorengleicher Vergütung schon zum ersten Januar erfolgen sollen. Ein realistischer Zeitplan?

Nagel: Das halte ich für mehr als sportlich. Wir haben 20 Jahre lang gebraucht, um das Thema sektorengleiche Vergütung überhaupt einmal anzudenken – und wollen die Sache nun in acht Wochen umsetzen. Mir soll die Geschwindigkeit aber recht sein, wenn hinter diesem Prozess ein alle Blickwinkel berücksichtigendes Konzept und eine Abstimmung mit den Beteiligten steht. Ich befürchte aber, dass das an dieser Stelle nicht der Fall ist.

Übrigens: Ich habe immer für eine „regionale Gesundheitssystemforschung“ geworben. Die in den Regionen gemachten Erfahrungen sollten reflektierter Teil eines Gesetzgebungsverfahrens sein, dass dann für die gesamte Bundesrepublik zur Anwendung kommt. So kann dann auch auf die Spezifika der jeweiligen Regionen eingegangen werden.

Kloepfer: Ergänzend möchte ich noch daran erinnern, dass die Idee der Hybrid-DRG praktisch von DGIV-Mitgliedern entwickelt worden ist. Warum fragt man sie nicht? Im vergangenen Jahr wurde ein Versorgungsforschungsauftrag für sektorengleiche Vergütung beim Innovationsfonds abgelehnt. Auf welcher Basis will ein Ministerium jetzt eine Rechtsverordnung schreiben, wenn man mit denjenigen, die sich seit Jahren damit beschäftigen, nicht spricht? Bei aller Hochachtung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMG: Das ist mir völlig unverständlich. Ich kann nicht daran glauben, dass da in acht Wochen eine gute Lösung entwickelt wird. Wir wissen, wie komplex die Materie ist und wie viele Fallstricke es da gibt.

Eine gesetzliche Änderung ist ja auch bei den Tagesbehandlungen in den Kliniken vorgesehen. Ein Lichtblick für die Häuser?

Kloepfer: Wir haben ja auch Kliniken in der Mitgliedschaft. Ein großer Klinikträger hat bei einem Treffen kürzlich ausgeführt, dass für ihn die Tagesbehandlung im Krankenhaus im allerbesten Fall 90 Pflegekräfte spart. Da arbeiten aber Pflegekräfte in vierstelliger Zahl. Der Effekt ist also nicht riesig. Außerdem: Die Regelung betrifft ja Patienten, die länger als sechs Stunden – aber nicht zur Übernachtung in der Kinik bleiben. Sollen die so lange auf einem Stuhl sitzen? Da müssen doch wieder Betten bezogen und vorbereitet werden.

Am Ende besteht die Gefahr, dass die Transaktion jeder Tagesbehandlung mehr Arbeit verursacht als das, was als Einsparung kommt. Den Ärzten bringt es auch nichts. Denn die Patienten, die am nächsten Morgen entlassen werden sollen, machen in den meisten Fällen in der Nacht wenig bis keine Arbeit. Also: Für die Ärzte ändert sich nichts und die Pflege befürchtet fast noch einen Mehraufwand. Auch stelle ich mir die Frage, ob die Gräben zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich nicht erhöht werden, wenn nur die Kliniken die Berechtigung erhalten, diese Tagesbehandlungen anzubieten. Es gibt fachärztlich gut aufgestellte MVZ, an die ebenfalls gedacht werden müsste.

Nagel: Zuerst muss die Frage geklärt werden, welche Patienten das eigentlich betrifft. Medizinisch gesehen gibt es da nur eine ganz kleine Kohorte. Nehmen wir ein diesbezüglich wiederholt erwähntes Beispiel: Nach einer Liquorpunktion muss ja erstmal das Ergebnis abgewartet werden. Das dauert bis 24 Stunden – da könne ein Patient ja auch nach Hause gehen, heißt es. Aber: Medizinisch ist das gar nicht erlaubt! Nach einem solchen Eingriff muss ein Patient  erst einmal  bis zu zwölf Stunden liegen. Das ist der Grund, warum Patienten am Ende des Tages nicht nach Hause gehen können, sondern in den meisten Fällen über Nacht im Krankenhaus bleiben sollten – da eine erhebliche Gefahr von Komplikationen bei zu früher Mobilisierung besteht.

Wenn wir den Vorschlag  betrachten, haben wir im Grunde einen medizinischen Aspekt, einen der die Arbeitsressourcen betrifft und einen sozialen Aspekt. Letzteren will ich einmal hervorheben: In einer Gesellschaft, in der mehr und mehr alleinstehende Menschen leben, die sich zu Hause auch selbst versorgen müssen, ist es sehr fraglich, ob sich eine Person, die den ganzen Tag in der Klink war, noch zu Hause ein Essen macht und sich selbst versorgen kann. Zu erwarten ist, dass dann da Unterstützungs- oder Pflegekapazitäten gebraucht werden, die viel mehr Energie binden, als es ohne die Neuregelung der Fall wäre.

Bleiben wir noch kurz bei den Krankenhäusern: In den vergangenen Monaten ist immer wieder darüber diskutiert worden, ob hochspezialisierte Leistungen nicht in bestimmten Zentren konzentriert werden sollten. Auch war die Rede davon, kleine – und vielleicht weniger rentable – Kliniken in ambulante Zentren umzubauen. Brauchen wir da eine große Strukturreform?

Nagel: Ich denke schon, dass wir allein aufgrund des medizinischen Fortschritts und des daraus resultierenden, sich verändernden Leistungsangebotes zu einer Strukturveränderung kommen müssen. Daher ist es sicher denkbar, dass wir bestimmte Angebote an definierten Orten konzentrieren. Nehmen wir mal als Beispiel die Protonentherapie. Auch wenn der Aufwand in den vergangenen Jahren gesunken ist: Das Verfahren macht immer noch eine Investition von 30 bis 35 Millionen Euro notwendig und kommt nur für sehr spezifische Indikationen zu Anwendung. Da ist es zumutbar, für eine solche Behandlung eine längere Wegstrecke in Kauf zu nehmen.

Allerdings sehe ich auch dahingehend Fragen in der Bevölkerung, ob zum Beispiel die Notfallversorgung in der Fläche erhalten bleibt, wenn Leistungsangebote an bestimmten Orten konzentriert werden. Zum Beispiel bei der pädiatrischen Notaufnahme in Berlin ist das ein sehr kontrovers diskutiertes Thema. Solche Sorgen muss man natürlich ernst nehmen und genau schauen, welche Leistungen wohnortnah vorgehalten werden müssen.

Was speziell die kleinen Krankenhäuser betrifft, die schon Probleme haben, das gesetzlich vorgegebene Maß an qualifizierten Mitarbeitern vorzuhalten, um eine Chirurgie, eine Innere Medizin, eine Gynäkologie aufrecht erhalten zu können: Da macht es in Abhängigkeit von den Angeboten in der Umgebung sicher in vielen Fällen Sinn, auch eine Strukturveränderung in Richtung einer Art ‚Gesundheitszentrum plus‘ ins Auge zu fassen. Den Menschen muss dann deutlich kommuniziert werden, dass die neue Struktur nicht weniger als ein Krankenhaus ist – sondern dass sie nur anders aufgebaut ist. Es kann ja auch die Möglichkeit geben, die Patienten in einem solchen Zentrum auch über Nacht zu beobachten oder Aspekte der Kurzzeitpflege zu realisieren. Solche Strukturen können weiterentwickelt und ausgebaut werden und für alle Beteiligten zu einer besseren Versorgung führen.

Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass „Gesundheitskioske“ oder die Community Health Nurse verstärkt zum Einsatz kommen sollen. Angesichts des Ärztemangels in der ambulanten Versorgung ein guter Plan?

Nagel: Vielleicht zunächst zum Thema Community Health Nurse: Ich denke, dass die Berufsbilder zur jeweiligen Leistungserbringung im Gesundheitswesen interprofessioneller werden müssen und dass die Themen Substitution und Delegation ärztlicher Leistungen offen diskutiert werden sollten – zumal wir einen deutlichen Fachkräftemangel haben. Der betrifft allerdings die Ärzte und die Pflegekräfte gleichermaßen. Letzteres auch, weil die Zulassungen zu Pflegeschulen und Fortbildungsmaßnahmen seit 2020  eingebrochen sind. Der Ruf nach neuen Berufsbildern allein wird das Problem nicht lösen.

Kloepfer: Die Gesundheitskioske können in sozialen Brennpunkten ein vernünftiger Ansatz sein. Aber die Zahl von 1.000 Einrichtungen, die in der Politik kursiert, scheint völlig illusorisch. Wir sollten auch Doppelstrukturen vermeiden – und da muss man sich schon fragen, was aus den Pflegestützpunkten von Ulla Schmidt geworden ist und ob die nicht eigentlich genau für diese Aufgaben benutzt werden sollten. Auch auf den Schulterschluss mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst muss geachtet werden. Dann ist noch die Frage zu klären, wie die Finanzierung aussieht. Ist das wirklich die Aufgabe der Krankenkassen? Die scheinen offenbar große Sorge zu haben, an der Stelle vereinnahmt zu werden – für Tätigkeiten, die eher in Richtung Sozialarbeit gehen. Und was die Finanzierung durch die Kommunen angeht: Gerade da, wo die Gesundheitskioske Sinn machen könnten, stehen die oft finanziell mit dem Rücken zur Wand. Also: Am Ende wir extrem viel Analyse und Strukturarbeit nötig sein, um dieses Modell gewinnbringend einsetzen zu können. Die Frage steht dann im Raum, ob diese Energie im Moment nicht an andere Stelle dringender gebraucht wird.

Noch eine Frage aus dem Bereich der ambulanten Versorgung: Offenbar gibt es immer mehr private Investoren, die Praxen bzw. Arztsitze aufkaufen wollen und in Richtung marktbeherrschende Stellung arbeiten. Sehen Sie diese Entwicklung mit großer Sorge? Ist sie unvermeidbar?

Nagel: Meine persönliche Meinung dazu: Die Grundlagen der Strukturen unseres Gesundheitswesens zielen darauf ab, dass der ärztliche Beruf als freier Beruf auch voraussetzt, dass eine wirtschaftliche Unabhängigkeit bei den Entscheidungen für Patientinnen und Patienten gesichert ist. Das ist in den von nicht medizinischen Investoren gehaltenen Arztpraxen schwer umsetzbar, da natürlich gewisse Gewinnerzielungsabsichten im Hintergrund stehen. Ich muss auch kein Gesundheitsökonom sein, um zu erkennen, dass der in der Regel erwartete Gewinn nicht realisierbar ist, wenn die im Gesundheitswesen Arbeitenden adäquat vergütet werden. Dementsprechend ist das eine gefährliche Entwicklung, die das System unterminiert – und es ist unklar, ob das unser ganzes System auch mal ins Wanken bringt.

Daher fordern wir absolute Transparenz über diese Entwicklung – auch im Hinblick auf übergeordnete kartellrechtliche Fragen. Erst wenn wir vollkommene Transparenz darüber haben, wer am Markt was macht, kann man darüber diskutieren, wo es zu einer Gefährdung der Strukturen kommt und was passieren muss. Die Politik muss daher zwingend Transparenz schaffen – und auch die Kassenärztlichen Vereinigungen beziehungsweise die gesamten Selbstverwaltungsorgane sind da gefragt.

Kloepfer: Ich glaube, dass es für diese Entwicklung auch hilfreich wäre, wenn wir endliche eine funktionierende Qualitätssicherung in der ambulanten Versorgung hätten. Da stehen wir noch ganz am Anfang.

Noch eine kurze Frage zum Bereich Selektivverträge: Während die in einigen Regionen sehr gut laufen, scheint sich in anderen nicht viel zu bewegen. Wird da Potential liegengelassen?

Kloepfer: Die brutale Antwort darauf muss wohl lauten, dass wir im Gesundheitssystem sehen, dass sich bessere Strukturen nicht in einem Wettbewerb durchsetzen können. Sonst hätten die Selektivverträge längst den Durchbruch erreicht. Das Problem ist – und das werden wir beim Innovationsfonds nun vielleicht verstärkt sehen – dass wir gute Ansätze nicht in die Regelversorgung überführt bekommen. Daran muss unbedingt gearbeitet werden. Wir fordern in unserem Positionspapier ja auch ein eigenes Kapitel im SGB V für Patienten mit interdisziplinären, intersektoralen und interprofessionellem Behandlungsbedarf. Klassisches Versorgungsmodell ist da die Schmerztherapie oder die Diabetesversorgung. Es gibt tatsächlich einen Leistungsbereich im SGB V, in dem das gewährleistet ist – die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Davon könnte man lernen und einen solchen Ansatz auch für andere Versorgungsbereiche in die Regelversorgung überführen. Der Selektivvertrag kann da ein Suchprozess sein, der hilft, die richtigen Strukturen zu finden. Dann müssen die aber auch in der Regelversorgung ankommen – und das klappt im Moment leider nicht.

Am Ende noch eine kurze Einschätzung von Ihnen zum Thema Digitalisierung. Wir erleben gerade, dass Projekte wie das eRezept auf der Stelle treten. Digitalisierungskritiker und -freunde diskutieren in der Ärzteschaft mitunter sehr energisch über die künftige Strategie. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Nagel: Wir haben uns selbst als DGIV intensiv dafür ausgesprochen, dass schon bald ein Gesundheitsdatennutzungsgesetzes implementiert werden sollte. Ein klares Ziel muss es sein, den Rahmen, den die Europäische Datenschutzgrundverordnung setzt, auch voll zu nutzen. Mit großer Rücksicht auf den Datenschutz müssen die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die letztendlich auch Leben und Gesundheit sichern. Diejenigen, die auf ein „weiter so“ plädieren, blenden völlig aus, dass die Digitalisierung mit der Verarbeitung von großen Datenmengen und der Möglichkeit, diese an unterschiedlichen Orten zu sammeln, neue Erkenntnisse ermöglicht. Daraus ergibt sich eine Verbesserung der Versorgung. Ich bin auch überzeugt davon, dass eine elektronische Patienten- oder Fallakte dem Einzelnen am Ende wirklich zugutekommt.

Manche Strukturen, die von der letzten Bundesregierung auf den Weg gebracht wurden, ermöglichen die gezielte Sammlung von Daten, die ohnehin schon zur Verfügung stehen. Die können dann über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und angrenzende neue Behördenstrukturen genutzt werden. Das ist ein erster Schritt. Es ist aber nötig, dass wir in diesem Bereich rasch weiterkommen und die Dinge ermöglichen, die in anderen Ländern längst umgesetzt sind. Daher würden wir es gerne sehen, wenn ein Datennutzungsgesetz die Leitplanken dafür vorgibt.

Was das Scheitern des eRezepts angeht: Das ist wieder so ein tragisches Momentum, bei dem man sagen muss: Eigentlich hatten einige verantwortliche Träger innerhalb des Gesundheitswesens – wie die Ersatzkassen – schon funktionierende Systeme entwickelt. Schauen wir einmal auf die Techniker Krankenkasse, die DAK oder Barmer. Diese Modelle wurden aufgrund übergeordneter Zielsetzungen wieder abgeschafft und gegen ein nichtfunktionierendes System ausgetauscht. Unabhängig vom Gesundheitswesen: Sowas kann sich unser Land einfach nicht mehr leisten. Da müssen die politischen – aber auch die administrativ Verantwortlichen – persönlich nochmal an ihr Selbstverständnis und ihre Professionalität appellieren.