Um die Versorgung auch in Zukunft zu sichern, brauchen die Akteure in den Regionen mehr Freiräume. Diese Auffassung vertritt die Chefin der AOK Nordost, Daniela Teichert. Im Interview mit dem „änd” erklärt sie auch, warum sie für die Abschaffung der Telemedizin-Quote und die Fortführung der telefonischen AU-Bescheinigung ist.
Frau Teichert, die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, die zum Einzugsgebiet der AOK Nordost zählen, nehmen in vieler Hinsicht demografische Entwicklungen vorweg, die auch in anderen Teilen Deutschlands bevorstehen. Stichworte sind Alterung und damit verbundener Morbiditätsanstieg bei gleichzeitig wachsendem Ärzte- und Fachkräftemangel. Was sind die größten Schwierigkeiten, die daraus für die Versorgung in der Fläche entstehen?
Wir sind tatsächlich ein Stück weit Modellregionen für ganz Deutschland. Die Herausforderungen, mit denen wir hier am meisten kämpfen, bestehen aber nicht nur hier. Das sind zunächst die finanziellen Probleme. Die letzten Gesundheitsreformen haben keine Entlastung gebracht. Die Reformen des Risikostrukturausgleichs haben zuletzt zudem eher eine Verlagerung vom Land in die Stadt bewirkt. Die Unterdeckung für multimorbide Versicherte hat zugenommen bei gleichzeitig wachsender Überdeckung für Gesunde. Für große Versorgerkassen wird es so immer schwieriger, Versorgung in der Fläche sicherzustellen. Neben den Finanzen sind zwei weitere Probleme – die haben Sie bereits angesprochen -, dass die Zahl der älteren Kranken trotz medizinischem Fortschritt heute immer noch weiter zunimmt und die Entwicklung in den Gesundheitsberufen.
Und wie sieht es 2030 in einem Dorf in Süd-Mecklenburg oder Süd-Brandenburg aus, wenn das Krankenhaus geschlossen hat, der Hausarzt keinen Nachfolger findet und der nächste Augenarzt 100 Kilometer entfernt im Berliner Speckgürtel sitzt?
Es ist vielleicht nicht ganz so schlimm, wie Sie es jetzt zeichnen, dass gar nichts mehr da ist. Aber wir haben das Problem, dass keine echte sektorenübergreifende Versorgung möglich ist. Wir haben diese Strukturveränderungen ja jetzt schon begleitet. Sehr intensiv ist das in dem Innovationsfondsprojekt Strukturmigration in Templin geschehen, das jetzt quasi Regelversorgung ist. Dort waren die Fallzahlen in der Klinik einfach nicht mehr vorhanden und gleichzeitig gab es Bedarf an ambulanter Versorgung. Also haben wir ein ambulant-stationäres Zentrum (ASZ) aufgebaut. Dort ist es uns echte Verzahnung gelungen. Wir haben es geschafft, Budget-Töpfe aufzubrechen und mit einer Sprache zu sprechen.
Wie hat denn das ASZ Templin den Sprung in die Regelversorgung jetzt geschafft? Die Schwierigkeit war doch, dass man die Finanzierung im jetzigen System nicht abbilden konnte. Was hat sich da geändert?
Das ist tatsächlich ein Problem. Die Förderung aus dem Innovationsfonds war zeitlich begrenzt. Und wie in allen Innofondsprojekten gab es die Lücke zwischen der Evaluation und der .berführung in die Regelversorgung. Die kann man nur mit einem Selektivvertrag füllen. Ein Selektivvertrag ist für das Thema in Templin aber eigentlich nicht das Richtige. Denn dann muss jede Krankenkasse einen eigenen Vertrag schließen. Wir fordern für Templin sozusagen eine Freihandelszone. Wir haben dort eine Lösung, aber wir können sie mit den bestehenden Regelungen nicht gut abbilden. Ich hoffe, dass das Vorhaben in Templin jetzt Einfluss findet in die Reformen auf Bundesebene.
Templin war mal als Blaupause für die sektorenübergreifende Versorgung auf dem Land gedacht. Funktioniert das Modell aus Ihrer Sicht auch anderswo?
Ich bin nicht mehr der Meinung, dass das Modell eine Blaupause ist, die überall passt. Das Grundkonstrukt ist richtig. Aber die Player sind an jedem Ort andere und die Bedarfe sind unterschiedlich. Wir gucken in Templin nur auf ambulant, stationär und die Pflege. An einem anderen Standort gibt es vielleicht statt einem Krankenhaus eine Rehaklinik, wo der Orthopäde noch Zeit hat für ambulante Versorgung. In einer anderen Region ist die Apotheke vielleicht der Nukleus der Versorgung und kann mehr leisten, etwa mit pharmazeutischen Dienstleistungen. Wichtig ist, dass vor Ort alle gemeinsam entscheiden, wer was macht –und nicht jeder alles. „Doppelversorgung“ können und dürfen wir uns nicht mehr leisten.
Also gehen Ihrer Meinung nach die Pläne für die Level 1i-Kliniken, die das Modell Templin ein Stück weit abbilden würden, noch nicht weit genug?
Ich glaube, es braucht noch weitere Modelle. Deshalb fordere ich: Gebt uns einen Rahmen. Wir gestalten ihn regional aus. Ich weiß zwar nicht, ob man das jetzt alles in der Krankenhausreform abbilden sollte. Denn dann kriegt man das Ding gar nicht mehr durch die Tür. Aber es ist wichtig, jetzt zu sagen, was unsere Vision von Gesundheitsversorgung 2030/ 2035 ist: Es wird sich etwas verändern, aber seid euch sicher, die Partner der Selbstverwaltung regeln das schon. Sie bekommen die Freiräume, die sie brauchen, um das zu vereinbaren, was in der Region nötig ist.
Was die Krankenhausreform betrifft, fordern die Länder ja sehr viele Freiheiten und Ausnahmetatbestände. Die Kassenverbände auf Bundesebene fordern dagegen bundesweit einheitliche Qualitätsvorgaben. Unterstreichen Sie diese Kassenforderung oder sehen Sie das mit Blick auf Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg anders?
Die Forderungen nach einheitlichen Qualitätsvorgaben kommen ja nicht nur von Krankenkassen, sondern auch von Ärzten. Es ist anhand von Zahlen belegt, dass eine bessere Versorgung in Zentren möglich ist. Wir haben da auch vermeidbare Sterbefälle. So ließen sich pro Jahr rund 4.700 Krebs-Sterbefälle vermeiden, wenn die Versorgung nur noch zertifizierten Krebszentren stattfinden würde. Das zeigt eine aktuelle Analyse. Deshalb gehören planbare Eingriffe in qualifizierte Zentren. Das entlastet auch die Ärzte. Man muss sich dann aber das Thema Ausbildung ansehen. Damit auch in Zukunft junge Ärzte in kleine Häuser kommen, braucht es kooperative Rotationsmodelle.
Nun haben wir uns die Krankenhausseite angesehen. Wie kann denn die ambulante Versorgung in diesen Regionen gesichert werden – jenseits von ambulant-stationären Zentren oder Level-1i-Kliniken?
Eine getrennte Betrachtung macht hier wenig Sinn. Wir brauchen eine sektorübergreifende Bedarfsplanung. Das ist noch ein dickes Brett. Außerdem gilt es zu schauen, was telemedizinisch möglich ist. Wir haben ein Pilotprojekt zur telemedizinischen ärztlichen Betreuung von Pflegeheimbewohnern und -bewohnerinnen gestartet. Der Arzt sitzt dabei mitunter 70 Kilometer entfernt. Er kennt die Patienten und kann in Kooperation mit den Pflegekräften vor Ort Vitaldaten erheben oder die Lunge abhören. So haben wir es geschafft, unnötige Krankenhauseinweisungen zu vermeiden und Versorgung sicherzustellen, die schon nicht mehr gesichert war. Wir werden das jetzt selektivvertraglich regeln und wollen auch gern, dass andere Kassen mitmachen.
Dann wäre auch das ein Modell für die Regelversorgung?
Zumindest müssten sich auch dafür Rahmenbedingungen ändern. Wir hatten in der Pandemie ja eine Obergrenze für Videokonsultationen von 40 Prozent. Diese Grenze wurde nun wieder auf 30 Prozent gesenkt. Diese Begrenzung brauchen wir nicht. Der Bedarf ist ein ganz anderer. Es ist doch sinnvoll, wenn eine Arztpraxis sich umstellt, weil sie feststellt, dass sie mit Videokonsultationen viel besser koordinieren und viel mehr Patienten versorgen kann. Dann ist diese Quote doch wirklich überflüssig. Ich hoffe sehr, dass sie jetzt fällt.
Auch die Telefon-AU für Patienten ist ja wieder abgeschafft worden, obwohl es eine deutliche Entlastung wäre für Ärzte ebenso wie für Patienten mit leichten Erkältungskrankheiten, die sich dann eben nicht in die Praxis schleppen müssen. Wie sehen Sie das denn?
Ich persönlich hätte mir eine Verlängerung vorstellen können, aber es ist anders entschieden worden, weil die GKV-Bank im G-BA der Ansicht war, dass die Versicherten alternativ zur telefonischen Krankschreibung auch die Videosprechstunde in Anspruch nehmen können. Generell finde ich, dass immer sehr schnell über die schwarzen Schafe geredet wird, also Ärztinnen und Ärzte mit Flatrate-Krankschreibungen und Patientinnen und Patienten, die sich immer wieder Freitag-Montag-Krankschreibungen holen. Aber das ist nicht der Regelfall, und das kann man über eine systematische Kontrolle regulieren. Es ist nicht mehr zeitgemäß, Begrenzungen zu setzen, um Missbrauch zu verhindern. Dafür haben wir mittlerweile doch andere Mittel und müssen diese einsetzen.
Auf Bundesebene sind für den ambulanten Bereich Gesundheitskioske und Primärversorgungszentren angedacht. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Ansatz?
Wir finden es grundsätzlich gut, wenn niedrigschwellige Beratung in sozioökonomischen Brennpunkten angeboten wird. Aber wir können uns Angebote „on top“ nicht mehr leisten. Es ist wichtig, Strukturen vor Ort zu nutzen und Kompetenzen und Beratungen zu erweitern. So könnten etwa Pflegestützpunkte Aufgaben der Gesundheitskioske übernehmen. Sie sind flächendeckend etabliert, und man könnte ihr Beratungsspektrum einfach erweitern. Was uns nichts bringt, ist eine vierte Stelle zum Blutdruckmessen. Nötig ist vielmehr eine gute Steuerung und Unterstützung bei Versorgungsbedarf. Ein Beispiel, wie das gut funktioniert, ist unser Projekt Cardiolotse. Dort begleiten speziell geschulte MFAs Herzpatienten nach einem Krankenhauseingriff in die ambulante Nachbetreuung und unterstützen sie bei der Inanspruchnahme von Reha, Sekundärprävention aber auch Kontrolluntersuchungen.
Welche Rolle spielen dabei Ärztenetze und andere kooperative Strukturen im ambulanten Bereich?
Versorgung funktioniert immer da gut, wo sich Akteure gemeinsam auf den Weg machen, um zu verhindern, dass Patienten durchs Raster fallen. Arztnetze sind dafür ein gutes Beispiel. Sie arbeiten transparent und entwickeln sich selbst durch Qualitätsmessung anhand von Routinedaten immer weiter. Wir können schon jetzt nachweisen, dass Patienten, die in Arztnetzen betreut werden, weniger Medikamente nehmen, seltener ins Krankenhaus müssen und auch eine andere Zufriedenheit mit ihrer Versorgung haben, weil sie rundum betreut werden. Das funktioniert am besten gemeinsam mit anderen Professionen, wie Verah oder AgnesZwei oder Lotsen.
Der Schlüssel liegt also in der Kooperation?
Absolut. Wir erwarten aber auch von kooperativen Strukturen, dass sie Ergebnisse bringen. In Mecklenburg-Vorpommern haben wir das Projekt Verah Care beendet, weil es nicht das gebracht hat, was vertraglich vereinbart war. Unsere Versicherten sollten ein spezielles Fallmanagement in der Entlass-Situation aus dem Krankenhaus erhalten. Dies wurde dann aber als Flatrate für dauerhafte Versorgung genutzt. Kooperation braucht es auch zwischen den Selbstverwaltungspartnern. Es entspricht nicht dem Zeitgeist, wenn die Kassenärztlichen Vereinigungen erst darauf warten, dass die Kassen den Geldhahn aufdrehen. Da braucht es auch innovative Ideen, die wir dann gern mit unseren Ressourcen unterstützen.
Und was müsste der Bundesgesetzgeber tun, damit sich solche kreativen und kooperativen Lösungen durchsetzen?
Die Krankenhausreform enthält bereits erste Ansätze zur sektorübergreifenden Versorgung. Das ist gut, auch wenn es im ersten Schritt noch nicht weit genug geht. Zudem sind wir sehr für bundeseinheitliche Qualitätsvorgaben durch den Bund, die dürfen nicht verwässert werden. Davon abgesehen ist mein Eindruck kritisch, weil immer mehr Zentralisierung kommt. Nötig sind aber vielmehr Versorgungsaufträge für die Regionen, die über die Sektoren hinweg greifen – Freihandelszonen eben.
Braucht man dann nicht eine Outcome-Messung?
Absolut! Wenn man gemeinsam neue Wege geht, muss man zeitnah schauen, wo sie hinführen und gegebenenfalls nachjustieren. Aus meiner Sicht gibt es dafür genug Instrumente. Versorgungsqualität kann man auch anhand von Routinedaten messbar machen. Das zeigen viele Arztnetze. Schön wäre es, Patientenzufriedenheit noch mehr zu messen. Mit Proms (patient reported outcome measures) hätten wir auch die Patientensicherheit stärker im Blick. Doch dafür ist bei einigen Akteuren noch ein Bewusstseinswandel nötig.
07.05.2023 08:33, Autor: Das Interview führte Angela Misslbeck., © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG
Quelle: https://www.aend.de/article/223118